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The Earl und die nationale Zugehörigkeit (#4)

  • Autorenbild: P
    P
  • 14. Mai
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 4. Aug.

Vergangene Woche weilte ich bei meiner Familie in Sevilla, der Stadt, in welcher meine Grossmutter geboren war und in welcher sich meine Grosseltern kennengelernt hatten. Die Reise nach Sevilla war für mich ein bittersüsses Erlebnis: Zum einen liess sie mich meiner verstorbenen Grossmutter ganz nah fühlen und erlaubte mir, das erste mal an der Feria de Sevilla (eines der grössten Volksfeste Spaniens, an welchem eine Woche lang "die spanische Kultur und Tradition" gefeiert werden) teilzunehmen. Zum anderen hiess der Aufenthalt für mich aber auch viele Gedanken und innere Konflikte zum Thema Zugehörigkeit, kulturelle Aneignung und Kolonialismus bewältigen. Diese möchte ich gerne mit euch teilen.


Mittwochmorgen, 09.00 Uhr. Gemeinsam mit meinem Bruder und meiner Mutter komme ich am Flughafen Sevillas an. Nach einem kurzen Zwischenstopp in einem Lokal diskutieren wir bei einem cortado (ein doppelter Espresso mit Milch) unsere Pläne für die nächsten Tage. Im Anschluss machen wir uns gestärkt auf den weg zur Wohnung der Cousine meiner Mutter, von wo aus wir dann, die Männer gekleidet im Anzug und die Frauen im traje de gitana (deutsch: "Zigeunerkleid", manche nennen es mittlerweile "traje de Flamenca", deutsch: Flamencokleid) schliesslich zur Feria aufbrechen. Die Busse sind masslos überfüllt, weshalb wir zu Fuss mit den insgesamt drei Millionen Besuchern und Besucherinnen (!) zum gigantischen Dorffest schreiten. Ich schaue mich um und sehe neben meiner Familie all die Sevillaner und Sevillanerinnen, die euphorisch zum lang ersehnten Fest marschieren. Das Gefühl von Stolz erfüllt mich. Ich gehöre zu ihnen, bin Teil von ihnen und dieser Kultur. Sevilla ist ein Teil von mir. Noch in keiner anderen Stadt (abgesehen von Zürich) habe ich mich so zuhause gefühlt wie hier. Und das Allerwichtigste: Ich fühle mich meiner Grossmutter ganz nahe, denke an ihr Lachen und daran, wie sehr ich mir wünschen würde, sie wäre hier.


Das Festgelände ist so gross wie 12 Fussballstadien und bietet Platz für über 1'050 casetas (auf deutsch "Häuschen". Dabei handelt es sich um Zelte, welche von lokalen Familien, Unternehmen oder Organisationen aufgestellt werden. Um eine Caseta zu erhalten, brauch man vor allem Einfluss, Geld, und Geduld (die Warteliste ist extrem lange). Die Casetas sind (fast ausnahmslos) privat und jede einzelne von ihnen wird von einem Security überwacht, wobei nur denjenigen Personen Einlass gewährt wird, die der entsprechenden Vereinigung angehören oder jemanden kennen). Ich verbringe die Feria Rebujito (eine Mischung aus Eis, Sherry und Zitronenlimonade) trinkend, essend, singend, tanzend und von caseta zu caseta meiner Verwandten und deren Bekannten gehend. Meine Verwandten sind unglaublich herzlich und kümmern sich liebevoll um uns. Ich verbringe ein paar wunderbare Tage an der Feria in Sevilla. Ich habe so eine gute Zeit, dass ich überrascht feststellen muss, wie sich ein Unbehagen in mir breit macht.


Mit meinen Verwandten spreche ich auch über meine Grossmutter. Sie kam im Jahre 1935 in einem kleinen Dörfchen 40 Fahrminuten von Sevilla entfernt zur Welt. Als uneheliches Kind einer jungen Spanierin wurde sie im damals sehr katholischen Andalusien von ihrer Familie als Last gesehen, weshalb ihre Mutter sie nach der Geburt in einem Kinderheim in Barcelona ablud. Meine Grossmutter wuchs weit weg von ihrer Familie im Heim auf. Im Heim wurde sie missbraucht. Eine Therapie war dazumal unüblich, weshalb sie mit niemandem darüber sprach. Auch uns erzählte sie nie von der Zeit im Kinderheim. Die ihr im Heim zugefügten Grausamkeiten nahm sie bei ihrem Tod schliesslich mit in ihr Grab. Alles was ich weiss ist, dass ihre Kindheit in Barcelona eine unglaublich schreckliche Zeit war, die ihr Leben extrem prägte. Als ihre Mutter einige Jahre später einen Mann heiratete, holten sie meine Grossmuter aus Barcelona zurück nach Andalusien. Meine Mutter erzählt mir bei unserer Reise, wie meine Grossmutter es nach ihrer Rückkehr auch nicht leicht gehabt habe. So sei ihre Mutter immer neidisch auf die Schönheit ihrer Tochter gewesen. Andere Familienangehörige hätten meine Grossmutter geplagt, sie sei eine gitana (deutsch: "Zigeunerin"), da sie als Einzige in der Familie dunklere haut und schwarze Haare hatte. Meine Grossmutter musste in Sevilla lange Schikanen ihrer eigenen Mutter und weiterer Verwandten ertragen, bis sie Spanien schliesslich gemeinsam mit meinem Grossvater den Rücken zukehrte. Sobald ich mich in Sevilla amüsiere und Spass habe, schleicht sich das schlechte Gewissen bei mir ein. Ich fühle mich schlecht meiner Grossmutter gegenüber, als würde ich sie verraten, als würde ich ihre Geschichte leugnen. Wie sie sich wohl fühlen würde, wenn sie mich lachend und feiernd hier sähe?


Nicht nur das schlechte Gewissen beim Gedanken an meine Grossmutter macht sich bei mir breit. Zurück in unserer Wohnung recherchiere ich zur Entstehungsgeschichte der Feria. Am 18. April 1847 begann sie in Sevilla als Viehmark der armen Bauern, welche von ihren Frauen (damals als gitanas oder "Zigeunerinnen" bezeichnet) begleitet wurden. Die Frauen trugen dabei luftige Rüschenkleider, was von den Damen der damaligen Elite nicht unbemerkt blieb. In der Folge begannen die Frauen gehobener Klasse, die Kleider der Bauernfrauen, mit hochwertigerem Stoff und aufwenigen Stickereien versehen, zu tragen. An einem Tag auf der Feria fragt mich mein Bruder: "Ist dir aufgefallen, dass hier ausschliesslich weisse Spanierinnen und Spanier herumlaufen?". Es stimmt: Die Feria ist ein Fest der Weissen und Reichen. Die Kleider der Frauen sind massgeschneidert und kosten um die 600 Euro, wobei die meisten Frauen jeden Tag ein anderes Kleid tragen. "Ausserhalb vom Festgelände verkaufen gitanas Buñuelos" (Teigringe mit Zucker und Schokolade) so die Kollegin meiner Verwandten. Mir wird flau im Magen. Gleichzeitig will ich meiner Familie gegenüber nicht respektlos sein und ihr Fest in Frage stellen. Zu Zeiten des Kolonialismus haben die Spanier und Spanierinnen unzählige Gebiete beansprucht. Von den Armen haben sie den Viehmarkt und die Kleidung genommen und sich diese als eigene Kultur und Tradition angeeignet. Alkohol schlürfend und Meeresfrüchte essend tanzen sie an der Feria, während 18.3% der Menschen in Sevilla arbeitslos sind oder nur den Mindestlohn von monatlich gerade einmal 1'000 Euro kassieren. Das "sie" sollte eigentlich ein "wir" sein. Auch hiervon bin ich Teil.


Am dritten Tag der Feria schleichen sich meine Mutter, mein Bruder und ich in eine der wenigen öffentlichen casetas auf dem Gelände, bevor wir unsere Verwandten in deren caseta treffen. Wir tauchen in eine komplett andere Welt ein. Anders als die privaten casetas ist diese nicht aufwendig geschmückt. Auch gibt es keine Liveband, die Flamencostücke spielt und keine Flamenco Tänzer und Tänzerinnen. Die Musik läuft über Lautsprecher. Hier sehe ich zum ersten Mal Touristinnen mit dem traje de gitana, Sandalen und Rucksack bekleidet (der Rucksack fällt sofort auf: Die Sevillanerinnen tragen an der Feria keine Taschen, da ihre Kleider über eingenähte Täschchen verfügen, in welchen Lippenstift, Handy und Fächer Platz finden). Zunächst finde ich es merkwürdig, Touristinnen als Spanierinnen "verkleidet" zu sehen. Schliesslich würde es mir beispielsweise in Japan auch nicht in den Sinn kommen, im Kimono herumzuspazieren. Ist das nicht eine Art der kulturellen Aneignung? Des Sichlustigmachens über die spanische Kultur? Dann denke ich wieder an die Entstehungsgeschichte der Feria. Die Kultur, die hier präsentiert wird, ist auch nicht die unsere. Die kulturelle Aneignung haben meine Vorfahren vor über 150 Jahren begangen. Mittlerweile sind die Kleider und das Fest unsere Tradition. Darf ich diese Tradition im Wissen um ihre Herkunft verherrlichen und feiern? Darf ich sie hier in Sevilla trotz der Geschichte meiner Grossmutter geniessen?


Zurück in Zürich verwirkliche ich mein Verprechen meinen Verwandten gegenüber und nehme Flamencostunden. Mein traje de gitana (auch wenn der Begriff diskriminierend konnotiert ist und ich diesen eigentlich nicht verwenden möchte, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass das Kleid nicht zu einem"Flamencokleid" wird, da dies die Ursprungsgeschichte des Kleides missachten würde und es wichtig ist, dass wir die Verbrechen und Taten unserer Vorfahren benennen und in Erinnerung behalten, damit sich diese nicht wiederholen) hängt neben mir im Schrank, während ich diesen Beitrag schreibe. Ich ringe mit mir. Seit ich zurück in der Schweiz bin, verspüre ich den Drang, nach Sevilla zurückzukehren. Das Dorf meiner Grossmutter zu besuchen. Mehr über ihre Geschichte, aber auch über die Geschichte der Kultur und Tradition Spaniens zu erfahren. Mir Bewusstsein darüber zu verschaffen, was hier an der Feria eigentlich zelebriert wird. Und allem voran: Mich wieder meiner Grossmutter nahe zu fühlen.


X, P


ree

 
 
 

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