top of page
  • Instagram

Die Domina

  • Autorenbild: P
    P
  • 17. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 11. Nov.

Als ich mich gestern Mittag aufgrund von Kopfschmerzen auf den Weg nach Hause ins Homeoffice befand, schaute ich gedankenverloren ins Nichts, aus welchem mir plötzlich jemand wie verrückt zuwinkte. Jemand Asitöfflifahrendes. Es dauert bestimmt sieben Sekunden, bis ich realisierte, dass Aldi-Guy soeben mit 30 km/h an mir vorbeigeflitzt war und mir dabei wie ein alter Bekannter fröhlich zugewinkt hat. Ach, Aldi-Guy. Ich habe weder zurückgewinkt, noch habe ich mich umgedreht. Dank der Begegnung mit Aldi-Guy habe ich mich aber voller Schrecken daran erinnert, dass seit einem Monat nichts auf meinem Blog erschienen ist. Sorry! Deshalb folgt nun die Geschichte, die ich euch schon lange erzählen wollte. Die Geschichte darüber, wie ich vor einigen Wochen ein Dominastudio besucht habe.


Freitagabend, 22.00 Uhr. Gemeinsam mit einer Freundin stehe ich in Zürich vor der Eingangstüre eines unauffällig scheinenden Gebäudes. Der Briefkasten ist mit der Anschrift "Webdesign" beschriftet. Wir betreten das Gebäude und steigen die steilen Treppen nach oben, wo uns eine junge, strahlende Frau die Türe öffnet und sich mir als Daria* vorstellt. Daria ist Domina, also eine Person, die gegen Geld BDSM-Praktiken und damit eine sexuelle Dienstleistung anbietet, wobei sie in der Regel keinen Geschlechtsverkehr mit ihren Kunden vollzieht. Hätte man mich im Vorfeld zu meinem Besuch gefragt, wie ich mir denn eine Domina vorstellen würde, hätte ich vermutlich das Gegenteil von Daria beschrieben. Erstens hätte ich geschätzt, dass eine Frau, die beruflich Menschen dominiert, um die 50 Jahre alt ist und bereits einiges an Lebenserfahrung gesammelt haben muss. Zweitens bin ich davon ausgegangen, dass eine Frau, die dieser Form der Sexarbeit nachgeht, dies deshalb tut, weil sie keiner anderen (legalen) Erwerbstätigkeit nachgehen kann bzw. dass sie die Tätigkeit zur Erlangung eines Nebenerwerbs ausübt. Drittens habe ich mir vorgestellt, dass eine Domina, die ihre Kunden ja oft erniedrigen soll, in ihrem Auftreten eher reserviert und kalt sein dürfte.


Die junge Frau, die vor mir steht, ist 21 Jahre alt. Sie spricht perfektes Schweizerdeutsch mit Bündner Dialekt und ist mir von Beginn an sehr sympathisch. Daria gehört zu der Gruppe von Menschen, die man einfach direkt mag und ins Herz schliesst. Sie führt uns in den Eingangsbereich, in welchem wir auf die anderen in diesem Studio angestellten Dominas stossen. "Du gsesch gar nöd us wie e Domina" meint eine der Frauen, die sich als Tina* vorstellt, zu mir. "Ich chume nur go zuäluegä" entgegne ich ihr. Tina scheint nicht ganz zu verstehen. Zuschauer*innen scheint es hier wohl nicht häufig zu geben. Auch männliche Mitarbeitende sind im Studio keine anzutreffen. Tina erklärt mir, sie arbeite einerseits als dom (meint in der BDSM-Szene die Person, welche den unterwürfigen Gegenpart diszipliniert, wenn gewünscht erniedrigt oder dem Gegenpart körperliche Schmerzen zufügt), andererseits aber auch als sub (meint die Person, welche sich der oder dem dom unterwirft und die Kontrolle abgibt). Wie unglaublich mutig man sein muss, einem komplett fremden und körperlich sehr wahrscheinlich überlegenen Mann komplett die Kontrolle abzugeben.

Daria erzählt uns, wie sie vor ein paar Jahren mit der Arbeit als Domina begonnen hat. Dazumal habe sie über Onlineinserate angefangen, älteren Männern getragene Unterwäsche zu verkaufen oder diese zum Abendessen zu treffen, um neben der Schule an etwas Geld zu kommen. Später sei sie dann an ein Unternehmen gelangt, welches nach Aussen Reinigungsarbeiten angeboten und sich nach Innen als Escortservice entpuppt habe. Dann sei sie an einen Zuhälter gelangt, welcher sie ausgebeutet habe und für den sie während längerer Zeit unter fatalen Bedingungen habe arbeiten müssen. Als sie sich schliesslich aus den Fängen ihres Zuhälters befreien konnte, begann Daria ihre Lehre als medizinische Praxisangestellte. Nun arbeitet sie unter der Woche in einer Arztpraxis und an den Wochenenden sowie in den Ferien erhält sie einen Zusatzverdienst als Domina. Daria ist kein Einzelfall. Sie erzählt mir von unzähligen Frauen, welche sie auf ihrem Weg kennengelernt hat, die ausnahmslos alle früher oder später in ein Abhängigkeitsverhältnis geraten seien, aus welchem sie sich nur sehr schwer hätten befreien können.


Das Bild, welches ich von Sexarbeit in der Schweiz hatte, entspricht nicht der Realität. Ich suche nach entsprechenden Statistiken zu Alter und Staatsangehörigkeit von Sexarbeiterinnen in der Schweiz, werde aber nicht fündig. Das einzige, worauf ich stosse, sind Zahlen der Frauenzentrale Zürich zur Prositution in der Schweiz. Kleiner Einschub: Grundsätzlich meinen die Begriffe "Sexarbeit" und "Prostitution" das gleiche, nämlich das Angebot einer sexuellen Dienstleistung gegen Geld. Massgebend für die Unterscheidung ist der Wortgehalt: Der Begriff der Prostitution ist negativ konnotiert, denn wer von Prostitution spricht meint etwas, was "anständige Frauen" nicht tun würden (https://www.zeit.de/kultur/2018-05/feminismus-prostitution-sexarbeit-unterscheidung-streit). Wer hingegen von Sexarbeit spricht, zieht eine Parallelle zu normalen Berufen, was neutral und akzeptierend gewertet werden kann. Definitionsunabhängig stütze ich mich also auf die vorhandenen Zahlen: Gemäss Frauenzentrale gehen rund 85% der in der Schweiz tätigen Sexarbeiter*innen aufgrund des Mangels an Alternativen oder aus wirtschaflticher Not. Auch Zwangsprostitution ist und bleibt ein riesiges Probelm in der Schweiz (dazu kann ich den Beitrag von SRF "Zwangsprostitution in der Schweiz – Die nigerianische Mafia und der Menschenhandel" empfehlen). Rund 15% der Sexarbeiter*innen entscheiden sich trotz Alternativen für einen solchen Beruf. Zur zweiten Kategorie zählt auch Daria.


Daria führt uns in das grösste Zimmer des Studios. Im Hintergrund läuft laut Techno, die Fenster sind abgedeckt, von den hohen Decken hangen Ketten, welche auf Knopfdruck herunter- bzw. hochgefahren werden können. An den Enden der Ketten befinden sich Laschen, welche sich an Handgelenken festbinden lassen. In der Ecke steht ein XXL Käfig, daneben befindet sich ein Gerät, dessen Funktionsweise ich bis heute nicht verstanden habe. Völlig überfordert stehe ich vor einer Wand voller Peitschen, Teppichklopfern, Paddeln, Stangen. Dann zeigt uns Daria eine Schweinemaske, welche bei ihren Kunden besonders beliebt sei. Daria erklärt mir, dass sie zunächst bei jedem Kunden herausfinden müsse, worauf dieser stehe und was dessen Grenzen seien. Konsens sei bei ihrem Beruf das Allerwichtigste. Man definiere ein Codewort, der Kunde wähle die Musik, Gerätschaft und Utensilien, und dann gehe es los. Daria ist so offen und herzlich. Ich kann sie mir sehr gut in ihrer Rolle als Praxisassistentin vorstellen. "Fällt es dir leicht, fremde Personen auf Knopfdruck fertig zu machen?" frage ich sie. Daria erklärt mir, dass sie in eine Rolle schlüpfe und ihr dies nach all dieser Zeit nicht mehr schwer falle. Zusätzlich helfe es ihr, dass sie bei ihren Kunden mit einem anderen Namen angesprochen werde und sie sich vorher gut informiere, was ihre Kunden von ihr erwarten würden. Bei der Arbeit sei sie eben nicht Daria.


Ich verbringe insgesamt etwa eine Stunde im Studio bei Daria, bevor die Klingel die Ankunft ihres nächsten Kunden ankündigt. Beim Herausgehen kreuze ich den schätzungsweise vierzigjährigen Mann, der völlig normal aussieht und mir auf der Strasse nie sonderlich aufgefallen wäre. Auf dem Weg nach Hause geht mir so einiges durch den Kopf. Ich bewundere Daria und ihre Mitarbeiterinnen für den unglaublichen Mut, mit welchem sie sich tagtäglich einer potenziell sehr gefährlichen Situation mit fremden Menschen aussetzen. Die Arbeit einer Domina ist essenziell: Sie gibt Menschen die Möglichkeit, ihre sexuellen Bedürfnisse in einem geschützten Rahmen mit einer Person auszuleben, welche dem zugestimmt hat und damit umgehen kann. Trotz der Relevanz übt Daria einen Beruf aus, für dessen Ausübung man in unserer Gesellschaft verachtet und abgewertet wird. Auch Daria erzählt mir von der Angst, welche sie hatte, ihrem Umfeld über ihre Arbeit zu erzählen. Viele Menschen in Darias Leben wissen nichts davon.


Aus mir wird vorerst keine Domina. Ich wünsche mir aber für Frauen wie Daria, dass ihre Arbeit enttabuisiert wird und sie die Wertschätzung erhalten, die sie verdient haben. Wir müssen offen mit dem Thema Sexarbeit umgehen, um Sexarbeiter*innen von Stigmatisierung und Diskriminierung zu befreien und einen geschützten Rahmen frei von Zwang und Gefahr zu schaffen. Eine Stripperin für einen Jungesellenabschied zu organisieren, ist lustig und gesellschaftlich akzeptiert. Eine Stripperin zu daten, ist es nicht. Das nennt sich Doppelmoral. In der Schweiz ist ein Fünftel der Männer (also 20%) mindestens einmal pro Jahr Freier (Aids-Hilfe Schweiz). Die Inanspruchnahme von Sexarbeit scheint für jeden fünften Mann in Ordnung zu sein. Das Anbieten von Sexarbeit sollte dies auch.


X, P



ree

 
 
 

Kommentare


 NEWSLETTER ABONNIEREN

  • Instagram

© 2025 pearltheearl

bottom of page